Leserbrief
Das große Komplott

Liebe ZEIT-Redaktion,

dies ist der erste Leserbrief meines Lebens und ich vermute, dass Sie aktuell sehr, sehr viele Leserbriefe erhalten. Ihr Artikel „Titelthema: Verschwörungstheorien“, bzw. die Bildunterschrift „Sucharit Bhakdi hält Covid-19 für einen Spuk“ ermuntert mich aufzuklären. Der Anlass ist emotional, ich bin wütend. Also versuche ich – die Gefahr erkennend - zu versachlichen, zurückzutreten. Ich bin Fan Ihrer Zeitung und liebe insbesondere den Diskurs. Artikel, die versuchen herauszustellen, dass die Welt nicht schwarz-weiß sondern bunt ist.

Die Gefahr der Verschwörungstheorien ausgehend von YouTube und digitalen Algorithmen hat mich dazu bewegt ein Kinder-Buch zu schreiben. Ein Märchen und Sachbuch für die ganze Familie. Darin möchte ich alle einladen über die Auswirkungen der Digitalisierung nachzudenken. Auf Seite 13, nach dem Transparenzhinweis zum oben kritisierten Artikel erwähnen Sie die Auszeichnung einer Ihrer Reportagen. Thema: Verführung eines Kindes. Ähnliche Mechanismen machen sich die Marketing-Experten zueigen, die uns und unseren Kindern ihre Produkte verkaufen wollen.

 

Sucharit Bhakdi

ist ein deutscher Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie. Er ist emeritierter Professor der Universität Mainz.

Videos zu Corona:

 

Sebastian Kempkens will den Lesern offensichtlich auch etwas verkaufen, seine Meinung oder die Meinung der Redaktion. Aber er bedient sich propagandistischer Mittel. Seine Bildunterschrift zu Sucharit Bhakdi ist doppelt gemein. Erstens bedient er sich der Anführungszeichen für das Wort „Spuk“, was beim Leser erstmal an wörtliche Rede Bhakdis denken lässt und ihn indirekt als Spinner diffamiert. Zweites ist es ein vermutlich rechtlicher Kunstgriff, weil der Autor nun fein raus ist. Bhakdi hat nie den Coronavirus geleugnet, aber das Phänomen Covid-19 als „sogenannten Spuk“ im übertragenen Sinn kritisiert. Somit ist die Bildunterschrift, die mich wütend gemacht hat, juristisch wohl nicht anzufechten.

Aber genau das ist mein Vorwurf. Journalisten operieren immer mehr wie ausgefuchste Marketing-Experten, die auf ihre Produkte irreführende oder sogar falsche Versprechen drucken, um die Kunden z.B. zum Kauf minderwertiger Lebensmittel zu verführen. Muss das sein? Ist es nicht eher journalistische Aufgabe die Diskussion zu versachlichen?

Und damit bin ich bei meinem zweiten Einwurf. Warum wird in dem Dossier „Das große Komplott“ nicht einmal wirklich den Ursachen auf den Grund gegangen? Es ist wie bei einer Krankheit. Wollen wir nur die Symptome unterdrücken oder den Körper wirklich heilen, indem wir die Ursachen angehen? In der ganzen Corona-Lage wird nicht über die Stärkung des eigenen Immunsystems geredet. Was muss und kann jeder Bürger tun um gesund durch jeden Winter zu kommen? Wann muss ich keine Angst vor Schweinegrippe, gewöhnlicher Influenza oder Corona haben? Wie reduzieren wir die schrecklichen Vorerkrankungen, die da wären Diabetes, Bluthochdruck, Asthma, u.v.a.?

Wir sind uns einig, dass die ganzen Verschwörungstheorien Quatsch sind. Wir wissen auch, dass Social Media und YouTube mit ihren Algorithmen einseitige Weltbilder beflügeln. Die Digitalisierung verstärkt alles, das Gute wie auch das Böse! (Siehe dazu mein Buch „Alice im Neuland“). Wie entkommen wir der permanenten Manipulationsfalle, die gleiches mit gleichem bekämpft und damit alles noch viel schlimmer macht?

Bitte, bitte liebe ZEIT-Redaktion – ich glaube an euch und an die Demokratie – nehmt die Kritik von Professor Bkakdi u.v.a. ernst, versucht Fragen zu beantworten und entsagt populistischen Methoden. Die Regierung und die Politik ist nicht unfehlbar! Entscheidungen, die Anfang März gefällt wurden, können und müssen 1. transparent dargestellt werden (Corona-Untersuchungsausschuss) und 2. heute neu bewertet und entschieden werden. Ich als Bürger habe ein Recht darauf zu erfahren wieviel getestet wurde, um einzuschätzen ob nur mehr getestet wurde oder ob mehr Corona-Infizierte nachgewiesen wurden. Gleichzeitig darf nicht eine Zahl Infizierte veröffentlicht werden, sondern es muss auch dazu gesagt werden, wieviele dieser Fälle symptomfrei, mit grippeähnlichen Symptomen und mit schweren Symptomen sind.

Die Schulschließungen waren meiner Meinung nach von Anfang an übertrieben und unnötig (so argumentierte am 12. März 2020 Christian Drosten in seinem Podcast selbst). Die Übertragung des Virus durch Kinder auf Erwachsene sind potentielle Einzelfälle und nicht Treiber der Pandemie (auch das war eine Einschätzung der WHO). Genauso die Maskenpflicht im öffentlichen Raum. Bringt nichts und bringt noch heute nichts. Solange vermehrt getestet wird, werden auch weiter steigende Infektionszahlen gemeldet. Bitte auch dazu eine ehrliche und faktenbasierte Aufklärung. Wir dürfen nicht extreme Einzelfälle durch digitale Verstärkung zum Allmachtsanspruch hochstilisieren.

Wer krank ist, und das gilt für Covid-19 genauso wie für die Grippe, sollte zuhause im Bett bleiben und sich auskurieren. Wer dennoch zwingend in die Öffentlichkeit muss, setzt zum Schutz der anderen eine Maske auf und vermeidet engen Kontakt. Das war schon immer so und sollte zum Grundverständnis jedes Menschen gehören – freiwillig! Wer sein Immunsystem stärken will, kann mit seinem Hausarzt jede Menge billiger und einfacher Maßnahmen ergreifen. Das beginnt bei einer gesunden Vollwertkost und reicht über genug Schlaf, frische Luft und Bewegung, bis hin zu Vitamin Präparaten. Bei der Influenza in gewissen Fällen gerne auch eine Impfung. Alles freiwillig.

Wer aber selbst ungesund leben will, darf nicht seine Mitmenschen in Haftung nehmen! Ich spreche hierbei (noch) nicht von den finanziellen Folgen, denn bisher zahle ich gerne meine Krankenversicherungsbeträge und weiß, dass damit Diabetikern, Bluthochdruck-Patienten und anderen vermeintlich geholfen wird. Noch besser wäre es natürlich, wenn auch bei diesen Menschen nicht die Symptome unterdrückt, sondern wirklich die Ursachen behandelt würden. Am Ende könnte ein ganz neues „gerechteres“ Gesundheitssystem stehen: Der Arzt bekommt nur Geld für seine gesunden Patienten. Aber jetzt bewegen wir uns in den Raum der Utopie. Oder ist es nur eine andere Verschwörungstheorie?

E-Mail von Sebastian Kempkens an Paul Andersson (19.05.2020)

Am 19.05.20 um 14:56 schrieb Kempkens, Sebastian:

Sehr geehrter Herr Andersson,

vielen Dank für Ihre kritische Zuschrift, auf die ich gerne antworte. Schade, dass Ihnen mein Artikel nicht gefallen hat. Gerne gehe ich auf Ihre Kritikpunkte im Einzelnen ein, um mein Vorgehen zu erklären.

Zunächst kritisieren Sie die Bildunterschrift als „propagandistisch“. Dem möchte ich entschieden entgegentreten. Es handelt sich um ein wörtliches Zitat aus meinem Gespräch mit Herrn Professor Bhakdi. Mir ist nicht ganz klar, woher sich Ihre Auffassung nährt, ich würde Herrn Bhakdis Aussage hier entstellen, kann Ihnen aber versichern, dass dies nicht der Fall ist.

Die Stellungnahme zu Ihren daran anschließenden Kritikpunkten erübrigt sich damit aus meiner Sicht. Ich sehe jedenfalls nicht, inwiefern ich wie ein „ausgefuchster Marketing-Experte“ agieren soll.

Sie kritisieren weiterhin, dass mein Artikel sich nicht mit dem Thema „Stärkung des Immunsystems“ auseinandersetze. Der einfache Grund: Es geht in meinem Text um das Thema Verschwörungstheorien. 

Zu Ihrer Kritik, ich würde mich nicht inhaltlich mit Professor Bhakdis Thesen auseinandersetzen. Zunächst: Das habe ich durchaus getan. Ich habe mit anderen Experten und Kollegen gesprochen, die sich medizinisch besser auskennen, um Herrn Bhakdis Thesen zu prüfen. Längst nicht alle Thesen haben standgehalten, auch schien mir die Faktengrundlage für einige seiner Thesen recht dünn. Aber darum soll es hier nicht gehen, in meinem Text ging es um die Funktion in der Szene der Verschwörungsideologen, die Herr Bhakdi erfüllt. Es scheint mir, dass er eine Art Scharnierfunktion annimmt, indem er einer Größe der Szene wie Ken Jebsen ein Interview gibt, das millionenfach geklickt wird. In einem Artikel über Verschwörungstheorien ist an Herrn Bhakdi leider auch aufgrund seiner vielfachen Beziehungen zu anderen Akteuren der Szene und seiner eigenen Andeutungen zu angeblichen versteckten Hintergründen der Krise kaum noch ein Vorbeikommen – deshalb finde ich es auch völlig legitim, seine Rolle in einem solchen Artikel zu beschreiben.

Freundliche Grüße
Sebastian Kempkens

E-Mail von Paul Andersson an Sebastian Kempkens (24.05.2020)

Am 24.05.20 um 12:37 schrieb Paul Andersson:

Lieber Herr Kempkens,

haben Sie vielen Dank für Ihre Antwort. Es freut mich, dass Sie den Dialog suchen und Ihr Vorgehen erklären wollen. Zum Glück haben Ihre Kollegen in der aktuellen ZEIT die Ehre Ihrer Redaktion wiederhergestellt. Der Artikel von Bernd Ulrich „Die desinfizierte Gesellschaft“ stellt sehr gute Fragen, auf die wir dringend Antworten finden müssen. Und das ZEIT-Magazin porträtiert die Virologin Karin Mölling.

Vielleicht versuche ich nochmal anders zu erklären, warum mich Ihr Artikel so gestört hat. In Ihrem Text ging es um das Thema Verschwörungstheorien. Wenn Sie wirklich mit Herrn Bhakdi gesprochen haben oder sein Interview mit Herrn Jebsen angeschaut haben, wissen Sie, dass er ganz bestimmt KEIN Anhänger irgendwelcher Verschwörungstheorien ist. Ihm sind die suggestiven Fragen von Herrn Jebsen offensichtlich unangenehm und er windet sich, um keinen falschen Eindruck zu erwecken. Ich erlebe Herrn Bhakdi als einen sehr feinen und klugen Kopf, der es nicht fassen kann, was gerade in diesem freien, gebildeten und christlichen Land, in das er emigrierte, geschieht. Er leugnet auch nie die Existenz von SARS-CoV-2 oder Covid-19.

Sie wollen Verschwörungstheorien als gefährlich darstellen, und ich unterstelle Ihnen, dass Sie auch aufklären wollen. Diese Theorien könnte man auch als Symptom einer kranken Gesellschaft verstehen. Wenn Sie aber nur das Symptom "Verschwörungstheorie" bekämpfen, heilen Sie unsere Gesellschaft nicht, sondern Sie spalten Sie weiter. Sie liefern allen Anhängern dieser Theorien noch Futter. Was wir aber dringend tun sollten ist das Immunsystem unserer freiheitlichen, europäischen Gesellschaft zu stärken.

Diese Gesellschaft kann es sich schlicht nicht mehr leisten, so unsozial, so fossil, so gestresst, so hypermobil, so krank zu sein. Das ist jetzt nicht mehr nur eine Frage der Gerechtigkeit oder von Nachhaltigkeit, sondern zugleich eine von Freiheit und ökonomischer Vernunft. Bernd Ulrich, DIE ZEIT N°22

Wenn Sie Herrn Bhakdi weiterhin als Verschwörungstheoretiker bezeichnen, werde ich selbst zu einem. Bitte rufen Sie ihn an und entschuldigen Sie sich bei ihm. Sie müssen nicht seiner Meinung sein, um ihn menschenwürdig zu behandeln. Wenn sein einziger Fehler war, Ken Jebsen ein Interview gegeben zu haben bzw. einen unpopulären Standpunkt zu verteidigen, so hat er wahrlich eine Gegendarstellung verdient. Ich mag Herrn Jebsen auch nicht, aber ich bin ihm für das Interview mit Herrn Bhakdi sehr dankbar. KenFM muss sich unabhängig über Spenden finanzieren, kann sein, dass Verschwörungstheorien dabei helfen – Aufmerksamkeit erregen sie allemal.

Interessanterweise hat auch Karin Mölling KenFM ein Interview gegeben und wurde dafür kritisiert. Trotzdem trägt Jana Simon im Artikel „Das Virus, ihre Leidenschaft“ sachlich Möllings Bedenken gegenüber den Corona-Maßnahmen vor, ohne sie zu verurteilen:

„Ich bin seit 50 Jahren mit solchen Dingen befasst. Was diesmal anders ist, ist die Hysterie.“ Es ist die erste weltweite Pandemie in der Hochzeit der sozialen Medien. 24 Stunden am Tag gibt es nur ein Thema und kein Entrinnen: Die Totenzahlen laufen im Minutentakt über die Liveticker.

Was ich kritisiere ist der Umgang mit Personen, die eine andere Meinung haben als die Mehrheit. Letztlich also der Umgang mit Minderheiten. Es scheint wieder völlig normal und legitim zu sein, solche Personen zu mobben. Das beginnt schon in der Schule, in der Kinder, die z.B. kein eigenes Handy haben, gemobbt werden. Behinderte, Flüchtlinge, Rechtsradikale und Verschwörungstheoretiker – ganz egal, wer sich gerade in der Mehrheit wähnt, haut drauf! Warum suchen wir nicht das Verbindende? Warum gibt es so viele Mitläufer und Weggucker? Ihr Bhakdi-Bashing – lieber Herr Kempkens – könnte man auch als rassistisch motiviert interpretieren. Ein linker Shitstorm wäre Ihnen sicher. "Journalist der ZEIT beleidigt buddhistischen Deutschen mit thailändischem Migrationshintergrund" oder "Junger Zeitungsredakteur diffamiert alten, ehrwürdigen Wissenschaftler".

Apropos Generationenkonflikt. Könnten Sie dieses Thema nicht aufgreifen, gut recherchieren und als Titelstory in der ZEIT bringen? Bei mir begannen die Alarmglocken zu läuten, als eine Satiresendung das Lied „Meine Oma ist 'ne alte Umweltsau“ veröffentlichte. Das Lied mag man mögen oder nicht. Nicht jeder versteht Satire. Aber die Aufregung darüber war so entlarvend wie Erdogans Aufstand gegenüber Böhmermanns Versen. Die mediale Hysterie zeigt in erschreckender Weise, wie weit wir uns von der Freiheit und den Grundgesetzen entfernt haben. Nicht bösartig sondern im guten Glauben. Auch bei aller Kritik an den Corona-Maßnahmen, die ja mehrheitlich auch von alten Personen vorgebracht wurde (also Teil der Risiko-Gruppe!), ging es bei niemandem darum, die Alten nicht zu schützen, ganz im Gegenteil! Es ging auch nie darum, Menschenleben gegeneinander aufzurechnen.

„Viren sind ein Modell für die Evolution und vielleicht auch für das menschliche Verhalten. Die meisten Viren sind nicht krankmachend. Und wenn es zu Epidemien kommt, trägt der Mensch Mitschuld daran, durch die beiden dramatischsten Veränderungen unserer Zeit: Mobilität und Bevölkerungsdichte.“ Karin Möllner, ZEIT-Magazin N°22

Die Klimastreiks waren politisch unbequem geworden. Die Jungen haben gezeigt, welche Macht sie haben. Sie haben die etablierten Politiker und "alten weißen Männer" vor sich hergetrieben. Die große Mehrheit war auf ihrer Seite. Nun zahlen diese Jungen den Preis für den Lockdown und sie werden auch alle künftigen, weiter explodierenden Kosten des Gesundheitssystems tragen müssen. Die Gesundheit wird zur obersten Staatsräson. Klimaschutz vergessen. Hieß es bei allen geforderten Maßnahmen, um die Folgen des Klimawandels zu minimieren und Millionen Menschen das Überleben zu sichern, „zu teuer“ oder „nicht durchsetzbar“ – so wurden durch ein neuartiges Virus plötzlich alles anders. Ausgaben von hunderten Milliarden Euro und die Einschränkung fast aller Grundrechte waren im Handumdrehen möglich, um – Sie entschuldigen die Polemik – einige "alte weiße Männer" zu retten.

Ich kann mittlerweile Verschwörungstheoretiker verstehen, auch wenn ich nicht ihre Meinung teile. Lieber Herr Kempkens, Sie sind jung, Sie sind klug, Sie haben die Macht, mit Ihren Artikeln etwas zu verändern. Sie können sowohl den Verschwörungstheoretikern den Wind aus den Segeln nehmen, als auch den Mächtigen auf die Finger klopfen. Deshalb gibt es Artikel 5 des Grundgesetzes: „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet“ und auch „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“

Wir sollten das Etikett "Verschwörungstheorie" nicht mehr benutzen. Es ist zum Deckmantel gesellschaftlich akzeptierten Mobbings verkommen. Sehen wir in den fantasievollen Erklärungen für unerklärliche Zustände den Hilfe- und Weckruf, den jeder für sich persönlich hören und beantworten muss. Stehen wir gemeinsam auf!

Es grüßt Sie sehr herzlich

Ihr
Paul Andersson